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Blumenbach

Black Lives Matter trifft auf Blumenbach

Es ist der Sommer 2020, weltweit protestieren Menschen im Anschluss an den Tod des Afroamerikaners George Floyd durch Polizeigewalt. Black Lives Matter bewegt die USA, Europa und auch Göttingen. Der gewaltvolle Tod erschüttert und ist für viele Aktivist:innen der Ausgangspunkt für eine Spurensuche nach Rassismus und kolonialen Kontinuitäten an den eigenen Wohn- und Studienorten. Eine dieser Spuren sind Denkmäler im öffentlichen Raum, die seit langem zum selbstverständlichen Erscheinungsbild gehören, die bei genauerem Hinsehen jedoch ungebrochen an die Kolonialzeit oder rassistische Persönlichkeiten erinnern. In Göttingen legten Studierende im Juli 2020 die Büsten Blumenbachs und Haeckels und ihre Sockel als symbolischen Akt waagerecht auf den Boden. Gerade um die Figur Blumenbachs, nachdem auch das Institut benannt ist, vor dem Ihr nun steht, entspann sich daraufhin eine kontroverse Debatte. Inzwischen steht die Büste Blumenbachs zwar wieder im Foyer (Stand Mai 2022, geht Sie Euch ruhig angucken), die Debatte aber lebt weiter.

Doch wer war Blumenbach und was macht ihn so streitbar?

Johann Friedrich Blumenbach wurde in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Gotha geboren und zog im Laufe seines Medizinstudiums nach Göttingen. Hier verfasste er seine Dissertationsschrift und verbrachte als Professor den Rest seines Lebens in der damals zwar noch jungen, jedoch bereits sehr bekannten Universitätsstadt. Nach seinem Tod im Jahr 1840 wurde er auf dem Albanifriedhof beigesetzt, wo sein Grab bis heute zu sehen ist.

Blumenbachs Forschungen sind schwerpunktmäßig im Feld der vergleichenden Anatomie angesiedelt. Er gilt als Wegbereiter der wissenschaftlichen Disziplinen Anthropologie und Zoologie. Beide Disziplinen befinden sich heute unter einem Dach im Göttinger Blumenbach-Institut. Maßgebliches Objekt seiner Forschung waren menschliche Schädel, die er vermaß und auf „natürliche Verschiedenheiten im Menschengeschlecht“ hin untersuchte, wie es der Titel seiner Dissertationsschrift verrät. Anders als einige seiner akademischen Zeitgenossen sowie der nachfolgenden Forschergeneration, zu der dann z.B. auch Ernst Haeckel zählte, wollte er damit keine unterschiedlichen Ursprünge der Menschheit beweisen, sondern ging im Gegenteil von einem gemeinsamen Ursprung aller Menschen aus. Das halten ihm viele bis heute zu Gute und argumentieren dafür, dass Blumenbach früher Vertreter eines wissenschaftlichen Antirassismus gewesen sei.

Problematisch an dieser eindeutig positiven Bewertung Blumenbachs ist, dass Blumenbach die Schädel trotzdem einer Bewertung unterzog. Denn in seiner Ordnung der verschiedenen Menschengruppen wurde der Schädel einer Georgierin zentral und damit am wichtigsten Punkt seiner Ordnung platziert. Ihm teilte er die Kategorie kaukasisch zu. Gemeint sind damit weiße Menschen aus Europa und Zentralasien. Bis heute wird kaukasisch vor allem in den USA noch als Synonym für weiße Menschen verwendet und zuweilen schwingt dem Begriff in manchen (rechten) Kreisen dabei eben auch eine Höherwertigkeit mit.

Eine weitere Verkomplizierung in der Bewertung Blumenbachs stellt seine Wissenschaftspraxis dar. Für seine Forschung sammelte er im Laufe seines Lebens nahezu 250 Schädel und begründete damit die bis heute älteste erhaltene Sammlung an Schädeln weltweit. Über sein weites Wissenschaftsnetz, zu dem so bedeutende Zeitgenossen wie Alexander von Humboldt und Johann Wolfgang von Goethe gehörten, ließ er sich Schädel aus aller Welt schicken. Diese Schädel, so haben Forschungen inzwischen gezeigt, wurden in vielen Fällen geraubt. Die Wissenschaftlerin Nell Painter verortet Blumenbach und seine anthropologischen Forschungen deshalb im Kontext des europäischen Kolonialismus des 18. Jahrhunderts, in dem Weltreichbestrebungen und Wissenschaft oft Hand in Hand gegangen seien. Eroberer, Händler und Entdecker hatten Blumenbachs Schädel nach Europa gebracht und damit erst das empirische Material für seine Forschungen geliefert. Inzwischen ist die Blumenbachsche Schädelssammlung, die bis heute Teil der wissenschaftlichen Sammlungen der Universität Göttingen ist, als sensibel eingestuft. Ein eigenes Forschungsprojekt untersucht die genauen Herkunftsgeschichten der Schädel, denn auch das ist ein Teil der imperialen und rassistischen Wissensordnung: Wir kennen zwar viele Namen der Sammler und Zusender an Blumenbach, die verstorbenen Menschen und ihre Lebensgeschichten sind jedoch nur in den seltensten Fällen überliefert.

Das 18. Jahrhundert und der Beginn des 19. – und damit genau die Lebzeit Blumenbachs – sind darüber hinaus grundsätzlich keine ganz einfache Zeit für die Bewertung und Beurteilung von Rassismen. Letztlich ist es genau diese Zeit, in der sich ein wissenschaftliches Rassedenken maßgeblich entwickelt hat und ein Anlegen von Schädelsammlungen zum Aufstellen und Prüfen dieser Rasseideologien an Fahrt aufnahm. Charakteristika für diese Zeit sind dabei, dass sich Begriffe wie „Rasse“ hier erst nach und nach durchsetzen und erst einmal noch viele parallele Begriffe bestehen. In diesem Begriffsdunstkreis steht auch die „Varietät“, die Blumenbach verwendet, denn das Wort „Rasse“ benutzte er in seinen maßgeblichen Schriften nicht.

Welches Bild entsteht hier von Blumenbach? Was scheint Dir wesentlich in der Bewertung seiner Person? Was kann man ihm zurechnen, was aber möglicherweise auch nicht? Macht es Sinn, seine Büsten zu stürzen?

Die Figur Blumenbachs ist, so viel steht fest, keine eindeutig zu bewertende Person. Einige Befürworter:innen seiner Figur wollen das zwar aus ihm machen, indem sie ihm eine unbefleckte Medaille als „Antirassist“ anheften. Dabei übersehen sie geflissentlich seine in koloniale Ordnungen verstrickten Forschungspraktiken. Das scheint uns ein symptomatischer Umgang mit Rassismus bis heute zu sein. Denn Rassisten, so eine landläufige Meinung, das sind in unsere Gesellschaft immer nur die Anderen und nie wir selbst, sondern Nazis und generell die Rechten. Dass unsere Gesellschaft spätestens seit der Lebzeit Blumenbachs von Rassismus tiefgreifend geprägt wurde und wir bis heute in einer strukturell rassistischen* Gesellschaft leben, wird leider oft übersehen. Diese Einsicht macht zugleich auch klar, dass die Debatte um Blumenbach nur ein Ausgangspunkt sein kann, letztlich über die Person Blumenbach hinausgehen muss und auf die größere Frage nach strukturellem Rassismus in Göttingen und seiner Universität verweist. Und wenn wir dann noch einen Schritt weiter gehen, regt die Auseinandersetzung mit Blumenbach eben auch zur Reflexion unserer eigenen rassistischen Prägungen an. Dazu haben die Studierenden mit ihrem sachten Sturz der Statue Blumenbachs offen eingeladen!

Was sind Eure Wünsche für eine solche Debatte und Reflexion? Was sollte da thematisiert werden? Nimm bitte mit uns Kontakt auf, wenn Du an der Durchführung und Organisation solcher Debatten Interesse hast! Wir freuen uns darauf!

Weiterführende Informationen:

  • Seite der Studierenden: https://bioantira.blackblogs.org/
  • Eine von den Studierenden organisierte Podiumsdiskussion, in der Befürworter und Gegner einer möglichen Umbenennung des Blumenbach-Instituts geladen waren: https://www.youtube.com/watch?v=QJTIYOa8b1s
  • Prof. Nell Painter sprach 2015 über Blumenbachs Wissenschaftspraxis an der Universität Göttingen: https://www.youtube.com/watch?v=WwDwnD1iQGI
  • Zum Forschungsprojekt „Sensible Provenienzen“, das unter anderem die Schädelsammlung Blumenbachs genauer untersucht: https://www.uni-goettingen.de/de/629688.html

*Bei dieser Station haben wir die Formulierung struktureller Rassismus verwendet: Darunter verstehen wird, dass Rassismus eben nicht nur das Fehlverhalten Einzelner ist, sondern sich in die Grundfesten unserer Gesellschaft mit eingeschrieben hat: im Zugang zu unseren Bildungsinstitutionen, im Wissen was dort vermittelt wird, im Arbeitsmarkt und etwa in der gesundheitlichen Versorgung. Mehr dazu: https://mediendienst-integration.de/artikel/was-ist-struktureller-rassismus.html

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