
Das Bismarckhäuschen trägt diesen Namen, weil der spätere Reichskanzler Otto von Bismarck hier zu seiner Studentenzeit gewohnt hat. Er kam 1832 nach Göttingen, um hier Rechts- und Staatswissenschaften zu studieren. Zunächst fand er in der Wohnung des Hauswirtes und Bäckers Justus Friedrich Schumacher, in der Roten Straße 299 (heute Rote Straße 27) eine Unterkunft (dort findet sich heute eine Gedenktafel an ihn). 1833 zog er in das Gebäude um, was wir jetzt sehen: Es war ehemals ein Turm des Stadtwalls.
Grund für seinen Wohnortwechsel soll vor allem sein „rauf- und trinkfreudiger Lebensstil“ gewesen sein, der ihm Ärger mit der Universität und der Stadt Göttingen eingebracht hatte. Seit 1933 gehört das Haus der Stadt Göttingen und wird heute teilweise von der Geschichtswerkstatt e.V. genutzt sowie als Gedenkort für Otto von Bismarck. Eine Ausstellung erzählt über sein Leben und Wirken, auch über Göttingen hinaus. Zumal er die Stadt im November 1833 verlassen hatte, um in Berlin zu studieren.
Diese Station ist Teil dieses Stadtrundgangs, da wir als Göttingen postkolonial der Meinung sind, dass Bismarcks Handeln als Reichskanzler (1871-1890) aus einer postkolonialen Perspektive kritisch zu bewerten ist. Er war das Staatsoberhaupt, unter dem Deutschland 1884 zum ersten Mal Gebiete in Afrika kolonialisierte. Er rief 1884 die Berliner Konferenz (auch “Afrika-Konferenz” genannt) ein, um den Kontinent unter den amerikanischen, europäischen und osmanischen Großmächten aufzuteilen. Dabei hatte er sich in den ersten zehn Jahren seiner Amtszeit wiederholt gegen die Gründung deutscher Kolonien ausgesprochen. Welches innen- oder außenpolitische Kalkül seinen Sinneswandel geleitet hat, ist wissenschaftlich umstritten; genau wie die Frage, wie viel Verantwortung man ihm heute für den deutschen Kolonialismus zurechnen sollte. [Falls ihr mehr wissen wollt, schaut euch die Unterhaltung von zwei Historikern dazu an (Quelle 1)]. Unserer Position zufolge geht es jedoch nicht darum, einen einzigen Schuldigen für die deutsche Vergangenheit zu finden. Stattdessen müssen Facetten aufgedeckt werden, die es ermöglicht haben, dass und auf welche Weise sich Deutschland an der kolonialen Gewaltherrschaft beteiligt hat. Mit diesem Verständnis lässt sich dann erkennen, wo diese Ideologien, Handlungsweisen und Entscheidungsprozesse bis heute fortwirken.
Obwohl Bismarck nur knapp zwei Jahre in Göttingen gewohnt hat, finden sich hier mehrere Namensnennungen und Orte, die an ihn erinnern. Dies folgt einem weltweiten Trend, der in dem Forschungsprojekt der BISMARCKIERUNG festgehalten ist (Quelle 2). Es gibt einen Turm am Stadtrand, einen Straßennamen, eine Kneipe, das umgangssprachliche „Elefantenklo“ und eine Eiche im Thorner Park, die seinen Namen tragen. Bismarck ist damit etwas weniger präsent abgebildet als beispielsweise in Hamburg, wo die weltweit größte Bismarckstatue steht. Die Hamburger Debatte, was für einen Zweck solche Denkmäler heute erfüllen [schau dir dazu z.B. diese Podiumsdiskussion (Quelle 3) oder diesen Beitrag vom Spiegel (Quelle 4) an), wurde in Göttingen noch nicht geführt.
Quellen
(1) Zur umstrittenen Erinnerung an Bismarck: https://kolonialismus.blogs.uni-hamburg.de/2020/11/12/video-prof-dr-christoph-nonn-im-gespraech-mit-prof-dr-juergen-zimmerer-ueber-die-zwei-seiten-des-fuersten-wofuer-steht-bismarck-wofuer-wird-er-erinnert/
(2) Bismarckierung auf der ganzen Welt: https://www.google.com/maps/d/viewer?mid=1uLPtUnWFowK-24kJtcaHTO9keWM&ll=40.483518531038655%2C-5.8377617384083464&z=2
(3) Podiumsdiskussion zu Hamburger Erinnerung an Bismarck: https://www.youtube.com/watch?v=gFBWw7tUi4E
(4) Spiegel-Artikel zur Hamburger Erinnerung an Bismarck: https://www.youtube.com/watch?v=c7RSHQ44hyQ
(5) Bismarcks Zeit in Göttingen: https://www.bismarck-stiftung.de/2012/03/22/wilder-student-und-eiserner-kanzler-auf-den-spuren-bismarcks-goettingen/
(6) Bismarcks komplizierte Beziehung zum Kolonialismus: https://www.bpb.de/apuz/202989/bismarck-und-der-kolonialismus
(7) Die Konferenz 1884, bei der Afrika aufgeteilt wurde: https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/kalenderblatt/1511-Afrika100.html